Proximity Bias im hybriden Setting

Warum uns „die Nahen“ näher sind und wie wir alle ins Boot holen.

Oder wie es uns gelingt, die kognitive Verzerrung in hybriden Veranstaltungen aufzulösen.

Warum sollten nicht auch Teammitglieder, die in anderen Ländern sitzen, an einem Präsenztraining oder Workshop teilnehmen? 

Diese und ähnliche Fragen tauchen auch post-pandemisch häufig auf. Kein Wunder, schließlich arbeiten fast alle Unternehmen mit hybriden Arbeitsmodellen und verteilten Teams, deren Mitglieder alle gleichermaßen von Fortbildungen profizieren sollen.

Aber geht das?

Das Phänomen:

Laut Studien profizieren tatsächlich eher Trainingsteilnehmende, die physisch anwesend sind, im Vergleich zu jeden, die per Videokonferenz zugeschaltet sind. Schuld ist der sogenannte Proximity Bias (Proximity = Nähe / Bias = Vorurteil).

Diese „Verzerrung durch Nähe“ führt dazu, dass Personen in Leitungsrollen, die Mitarbeitenden, die ihnen physisch näher sind, unbewusst bevorzugen. Jene, die im Home Office oder in anderen Ländern arbeiten, werden als weniger produktiv und leichter ersetzbar eingeschätzt und zudem seltener befördert (Quellen auf talk2change.at). Gleichermaßen  „vergessen“ Lehrende im hybriden Setting oft online zugeschaltete Personen und fokussieren stärker auf die im Raum Anwesenden („Aus den Augen, aus dem Sinn“).

Diese instinktive Urteilsverzerrung ist evolutionär begründet, nachdem uns klar Sichtbares schon immer sicherer und verlässlicher erschien. In großen Seminargruppen tritt das Phänomen ebenfalls auf: Nahe beim Trainierenden sitzende Personen werden sympathischer und kompetenter wahrgenommen (Vorurteil: „Einserschüler sitzen in der ersten Reihe“).

Die Herausforderungen:

Der Proximity Bias kann in hybriden Seminaren dazu führen, dass online zugeschaltete Personen sich ausgeschlossen fühlen und dadurch schnell das Interesse verlieren. Ein virtueller Lernerfolg wird dementsprechend verhindert.

Sowohl auf die Stimmung und Gruppendynamik im Raum zu reagieren, als auch die virtuell Beteiligten im Auge behalten und aktiv einzubeziehen ist nicht leicht. Es erfordert ein hohes Maß an Planung, Konzentration, Disziplin, Flexibilität und Selbstreflexion Seitens der Trainierenden. Beide Zielgruppen bringen schließlich äußerst unterschiedliche Voraussetzungen mit und agieren vorerst unabhängig voneinander.

Die Lösungsansätze:

  • Bewusstsein steigern: Man kann nicht davon ausgehen, dass sich alle Teilnehmenden den besonderen Herausforderungen des hybriden Raums bewusst sind. Es ist aber essentiell, unbewusste Verhaltensweisen zu reflektieren, um sie damit bewusst und beeinflussbar zu machen. Ebenso ist es wichtig, das Ziel zu vereinbaren, dass alle Beteiligten möglichst egalitär einbezogen werden sollen – und zwar von Seiten der Moderation als auch der Teilnehmenden. Letztere können vorab nach Ideen gefragt werden, wie Brücken zwischen der online und präsenten Welt gebaut werden können, um das gemeinsame Verantwortungsgefühl zu steigern.
    Es sollte auch allen vorab erklärt werden, dass es im hybriden Setting mehr Disziplin und „strengere“ Moderation braucht als in Präsenz.
  • Detaillierte Planung: Ähnlich wie in online Trainings müssen auch im hybriden Setting die Lerneinheiten besonders abwechslungsreich und kleinteilig geplant werden, um die Aufmerksamkeit zu halten. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, ca. alle 15-30 Minuten die Methode zu wechseln (Gruppenübungen/Breakout Sessions, Brainstorming, Diskussion, Kreatives, etc.), wobei man darauf achten muss, dass virtuelle Teilnehmende nicht benachteiligt werden, und der Fokus abwechselnd online oder offline ist. Stündliche Pausen sind empfehlenswert.
  • Technische Ausrüstung vorbereiten: Das Installieren (und vorab Testen!) der Technik ist die Grundvoraussetzung für den Erfolg jeder hybriden Veranstaltung. Nur so können alle Beteiligten ungehindert partizipieren und lernen. Im Seminarraum gilt: Decken- oder Richtmikrophone, gute Kamera(s), ein eigener großer Screen für die Darstellung der online Teilnehmenden (mit Sprecheransicht und Chat!), KEINE Laptops für Anwesende aufgrund möglicher Tonstörungen. Im (Home) Office: Ruhige Umgebung, Kamera und Mikro. Und natürlich überall: Stabiles, starkes Internet.
  • Gruppendynamik steuern: Um Emotionen in den (virtuellen) Raum zu holen, und damit die Verbindung aller Beteiligter zu stärken, plane ich bewusst Einheiten zum Lachen ein (humorvolle Videos passend zum Thema und Aktivierungsübungen). Ebenso reserviere ich mehr Zeit zum Kennenlernen und Ankommen. Gut angenommen werden visuelle Übungen, bei denen jeder zu einem intuitiv gewählten (online) Bild eine Assoziation zum Thema ausdrückt, oder sich (bzw. die eigene Gefühlslage) anhand des Bildes vorstellt. Dabei kommen alle zu Wort und die Hemmung sich als online zugeschaltete Person zu melden, sinkt.
    Gemeinsames Brainstorming zu Fragen wie „Was sind unsere Erfolge / Was hat mir bisher Spaß gemacht / Wofür bin ich den anderen dankbar?“ fördern Gemeinschaftsgefühle.
  • Verhaltensregeln vereinbaren: In meinen Seminaren vereinbare ich immer Spielregeln wie Rücksichtnahmen, Vertraulichkeit oder Freiwilligkeit mit den Beteiligten. Im hybriden Setting müssen vor allem Regeln der Kommunikation noch detaillierter festgehalten und besprochen werden.
    Ein Beispiel: Wie kann sich jemand zu Wort melden? Über Handheben (nötig bei großen Gruppen), oder einfach lossprechen (natürlicher Gesprächsfluss), oder gar nur via Chat (davon würde ich dringend abraten). Wer wird wann drangenommen? Beispielsweise immer abwechselnd jemand der physisch bzw. online anwesend ist.

    Eine wichtige Regel ist, dass virtuelle Teilnahme nur mit aktivierter Kamera stattfindet, weil sonst die Anonymität der online Zugeschalteten zu einer unüberwindbaren Mauer wird. Nur über die Videofunktion, welche die Mimik und Gestik der online User sichtbar macht, ist ein realitätsnaher, lebendiger Austausch möglich.

    Solche Spielregeln können durchaus partizipativ festgelegt werden. Dazu eignet sich eine online Umfrage oder ein Jamboard, das am besten bereits vorab verschickt wird (s.u.).
  • eTools einsetzen, die von allen Teilnehmenden ident verwendet werden können. Idealerweise erhalten alle gleichzeitig einen QR-Code, der sie über die Smartphone-Kamera zu einem Quizz, einer Übung oder Umfrage weiterleitet.
  • Pre- und Post-Phase online und damit egalitär gestalten: Schön ist es, alle Eingeladenen mit Hilfe eines Willkommens-Videos abzuholen. Hier können Seminarziele und Herausforderungen niederschwellig angesprochen werden.
    Alle Teilnehmenden können anschließend über einen online Fragebogen weiter ins Thema geholt werden. Dabei werden mittels Reflexionsfragen auch die oben genannten Punkte „Bewusstsein“ und „Spielregeln“ gleich eingearbeitet.
    Ebenso können Erwartungen (an die Hybrid-moderation & -teilnahme) abgefragt werden. Das Bewusstsein für die geteilte Verantwortung über das Gelingen der Veranstaltung wir dadurch gestärkt.
    Auch Transfer- und Selbstcoaching-Aufgaben werden nach dem Seminar via Email oder LMS verbreitet. Lerntandems können bewusst so zusammengestellt werden, dass immer einer der Peers online, der andere präsent dabei war, um so den Austausch unterschiedlicher Erfahrungen zusammenzubringen.
  • Co-Moderation engagieren (und budgetieren): Ein hybrides Seminar mit mehr als 15 Teilnehmenden lässt kaum alleine professionell meistern. Man sollte sich durch eine Assistenz unterstützen lassen, die online zugeschaltet ist und sich u.a. explizit um den Chat und technische Probleme im virtuellen Raum kümmert. Bei Wortmeldungen nimmt man am besten immer abwechselnd eine physisch und virtuell anwesende Person dran. Zusätzlich können Teilnehmende aktiv Rollen wie Pausen- oder Spielregel-„Wauwau“ übernehmen, was die Trainer entlastet und die Gruppe stärkt.
  • Regelmäßig Feedback-Schleifen einbauen, um zu erheben, ob sich alle ausreichend angesprochen und einbezogen fühlen, oder etwas verbessert werden muss. Auf Wünsche muss dann natürlich auch weitest möglich eingegangen werden, was ein hohes Maß an Flexibilität verlangt. Wer sein Programm einfach „runterspulten“ möchte, ist hier fehl am Platz.

Fazit:

Herausforderungen hybrider Settings können gut gemeistert werden, wenn man dazu bereit ist, sich bewusst auf diese vorzubereiten und in mehr Planungszeit und gruppenstärkende Übungen investieren.

Technische Ausstattung und -Know How, sowie eine Co-Moderation sind dabei Erfolgskriterien.

Ebenso wichtig ist, das Bewusstsein der Teilnehmenden darüber zu stärken, dass es besondere Spielregeln und Disziplin braucht, damit sich alle gleichermaßen einbezogen fühlen und von der Lernerfahrung profitieren.

QUELLEN:

Harvard Business Review:

Survey by Society for Human Resource Management (SHRM)

https://hbr.org/2022/10/what-is-proximity-bias-and-how-can-managers-prevent-it

Future Forum:
Pulse-Studie (durchgeführt von Slack und Boston Consulting Group, MillerKnoll und MLT):

„Die Studie – die vierteljährlich veröffentlicht wird und auf einer Umfrage unter mehr als 10.000 Wissensarbeitenden in den USA, Australien, Frankreich, Deutschland, Japan und Großbritannien basiert – gibt ein Bild über die aktuelle Arbeitssituation: In Deutschland arbeiten derzeit lediglich 32 Prozent aller Wissensarbeiterinnen / -Arbeiter jeden Tag im Büro. Gleichzeitig zeichnet sich im Hinblick auf die Präferenzen und Wünsche der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein eindeutiger Trend ab. 82 Prozent der Befragten in Deutschland geben an, dass sie hybrid oder sogar komplett remote arbeiten möchten“. https://futureforum.com/

Forbes Magazin:

https://www.forbes.com/sites/forbestechcouncil/2022/04/04/how-to-mitigate-proximity-bias-and-create-a-more-inclusive-workplace-culture/?sh=1ea498c2727f

Recruitee.com:

https://recruitee.com/articles/proximity-bias